Blickgesteuerte Interaktion bei der Gestaltung von Produkten für Menschen mit Querschnittslähmung

Eye Image

In der UX-Welt gibt es viele Fachleute, die über eine Vielzahl Themen diskutieren und sich selten einig sind. Dabei kann es um Titel, Prozesse, die beste Methodik oder die besten Tools gehen. In einem Punkt sind jedoch alle UX-Expert:innen einer Meinung: Großartige Produkte zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich an den Bedürfnissen der Endnutzer:innen orientieren. Einfühlungsvermögen ist der Schlüssel, um die wichtigsten Herausforderungen zu erkennen und sicherzustellen, dass wir die richtigen Probleme lösen.

Mit der technologischen Weiterentwicklung stehen uns immer mehr Tools zur Verfügung, mit denen wir die Erfahrungen von Endnutzer:innen verbessern können.

Es gibt eine besondere Benutzergruppe, die spezielle Geräte und Produkte benötigt, um für die meisten von uns selbstverständliche, einfache und alltägliche Dinge zu erledigen. Die Rede ist von Querschnittsgelähmten oder Menschen, die aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls gelähmt sind und ihre Gliedmaßen nur eingeschränkt oder gar nicht bewegen können. Wir erläutern Artikel, wie die Entwicklung von Produkten mit Eye-Tracking-Technologie und blickgesteuerter Interaktion dieser speziellen Gruppe helfen kann.

Benutzer

Wheelchair sign
Foto von billow926 auf Unsplash

Wir konzentrieren uns hier besonders auf Tetraplegiker:innen, also Personen, die alle vier Extremitäten nicht bewegen können. Tetraplegie tritt bei Verletzungen zwischen den Wirbeln C1 und C8 oder im Bereich der Halswirbelsäule auf. Je nach Lage und Schwere der Verletzung können unterschiedliche Lähmungsgrade auftreten. Je höher die Verletzung liegt, desto schwerwiegender sind die Folgen und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass alle vier Gliedmaßen gelähmt sind.

Wir können uns nur ansatzweise vorstellen, wie drastisch sich solche Verletzungen auf das Leben der Menschen auswirken und alltägliche Aufgaben beeinflussen. Ein einfacher Anruf bei einem Verwandten kann kaum ohne Hilfe durchgeführt werden oder ist sogar unmögliche. Deshalb leidet mit 49,3 Prozent fast die Hälfte der ganz oder teilweise gelähmten Menschen unter psychischen Problemen wie Angstzuständen und Depressionen.

Technologie

Yarbus eye tracker from the 1960s

An dieser Stelle bringen wir Eye-Tracking ins Spiel. Der erste Eye-Tracker wurde 1908 für die Augenheilkunde entwickelt. In den späten 1980er Jahren verlagerte die Forschung den Schwerpunkt auf die Interaktion zwischen Mensch und Computer. Sie half den Forschenden zu verstehen, wie Menschen Computerschnittstellen nutzen und wie man diese Erfahrung verbessern kann. Parallel dazu wurde die Forschung zur Nutzung der Technologie durch Menschen mit Behinderungen fortgesetzt.

Dank der daraus resultierenden Fortschritte nutzen aktuelle XR-Geräte wie HoloLens, Magic Leap, Pico, Meta Quest und Apple Vision Pro diese Technologie, um Anwender:innen ein barrierefreies Erlebnis zu bieten. Die Augenkalibrierung über die in der XR-Brille verbauten Eye-Tracking-Sensoren ist eine der ersten Setup-Optionen, wenn man die Brille erstmals einrichtet.

magic_leap_used_by_paraplegic_person
Paraplegic Person uses Magic Leap

Design

Die Technologie ist also bereits da, aber wie können wir diese Gruppe von Menschen mit dieser Art von Behinderung in den Designprozess einbeziehen? Das Thema Zugänglichkeit wird für Designer:innen und Unternehmen, die ihre Produkte einer breiteren Nutzergruppe zugänglich machen wollen, immer wichtiger. Ganze Länder haben Standards für die Barrierefreiheit festgelegt, die in allen digitalen Produkten auf dem Markt verpflichtend sind. Derzeit sind aber nur drei Prozent des Internets für Menschen mit Behinderungen vollständig zugänglich. Eine winziger Bruchteil, der die Notwendigkeit von Verbesserungen bei der Barrierefreiheit verdeutlicht.

Wie können wir also Produkte entwerfen, die inklusiv und benutzerfreundlich sind? Innovationen sind dafür notwendig. Die Entdeckung neuer Wege, mit diesen Produkten zu interagieren, erweitert unmittelbar die Gruppe der Nutzer:innen, die davon profitieren können. Für die oben erwähnten Tetraplegiker:innen sind diese neuen Interaktionsmethoden die einzige Möglichkeit, auf das Internet zuzugreifen oder Kommunikations-, Unterhaltungs- oder Medien-Apps zu nutzen.

Es gibt bereits spezielle Produkte auf dem Markt, die blickgesteuerte Interaktion verwenden, dafür aber immer auch spezielles Equipment benötigen. Beispiele sind die Assistenz-Apps und -produkte von Tobii Dynavox, die Augensteuerungs-Optionen von Microsoft oder die Apple’s Funktion, ein iPad mit Hilfe eines Eye-Tracking-Geräts zu steuern.

TD Pilot eye tracker for iPads
Tobii Dynavox’s TD Pilot Eye Tracker für iPads, Foto von Tobii Dynavox 

Biologie

Wenn man die Hände nicht bewegen kann, bleibt oft nur der Einsatz der Stimme oder der Augen. Die blickgesteuerte Interaktion ist eng mit der Erforschung und Verbesserung der Eye-Tracking-Technologie und der Augenheilkunde verbunden. Die zwei wichtigsten Augenbewegungen sind Sakkaden und Fixationen. Das menschliche Sehen wechselt ständig zwischen diesen beiden Bewegungsarten. Sakkaden sind die schnellen Augenbewegungen zwischen den Fixationen, den Zeiten, in denen das Auge ruhig und konzentriert ist. Das Verständnis dieser biologischen Funktionen hilft bei der Entwicklung besserer Benutzerschnittstellen, die eine blickgesteuerte Interaktion ermöglichen.

Herausforderungen

Schon zu Beginn der Entwicklung eines solchen Experiments gibt es viele Herausforderungen. Es ist etwa wichtig, die erforderliche Zeit zu bestimmen, um eine Aktion auf dem Interface durchzuführen. Nicht alle Augen verhalten sich gleich und nicht alle Menschen haben die gleichen Augen. Die Zeitintervalle müssen also getestet und angepasst werden, um den Bedürfnissen möglichst vieler Benutzer:innen zu entsprechen. Das ist beispielsweise möglich, indem man Benutzer:innen mit unterschiedlichen Fähigkeiten testet und den genauen Zeitintervall ermittelt, der erforderlich ist, um eine Aktion auszulösen. Daraus kann eine individuell anpassbare Einstellungsoption resultieren. Beim Tippen auf einer Tastatur benötigen manche Menschen beispielsweise nur eine Sekunde, um einen Buchstaben auszuwählen, während für andere anderthalb Sekunden besser sind. Die Berücksichtigung dieser Bedürfnisse und die Option für eine individuelle Anpassung kann die generelle Benutzererfahrung verbessern. 

Eine weitere Herausforderung ist die Gestaltung des User Interfaces. Die Grundprinzipien sind nach wie vor gültig, aber hier geht es um die Interaktion mit dem Auge, nicht mit der Hand. Das wirkt sich drastisch auf das Aussehen und die Handhabung des Produkts aus. Größe, Visualisierung und zusätzliche Elemente wie Animation und Sound sind wichtig, um die Aktionen hervorzuheben und eine nahtlose und intuitive Navigation zu ermöglichen. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass selbst beim Fixieren das Auge nicht ausschließlich auf einen Punkt ausgerichtet ist. Es bewegt sich immer in einem Radius um den Fokuspunkt. Das hat Auswirkungen auf Größe und Gestaltung von Elementen des User Interfaces.

Die Positionierung der Elemente auf dem Bildschirm ist eine weitere große Herausforderung. Die Benutzeroberfläche muss fokussiert sein, um eine schnelle Navigation zu ermöglichen. Die Platzierung von Elementen außerhalb des Sichtfeldes kann zu Fehlern oder Aktionen führen, die Nutzer:innen nicht auslösen können. Einige Tetraplegiker:innen haben etwa eine eingeschränkte Kopfbeweglichkeit, was eine noch größere Herausforderung darstellt. Der Fokus sollte immer innerhalb des Sichtfelds liegen, das je nach Benutzenden unterschiedlich sein kann.

Außerdem ist die Technologie noch nicht so weit entwickelt, dass solche Interaktionsmethoden in allen Produkten eingesetzt werden können. Mit zunehmendem Fortschritt bietet sich Eye-Tracking als zusätzliche Option jedoch immer mehr an.

Die Verwendung von Eye-Tracking als einziger Interaktionsmethode kann allerdings zu Fehlern und Frustration bei Nutzer:innen führen. Um dies zu vermeiden, sollten bereits in den frühen Phasen des Designprozesses viele Tests und Anpassungen durchgeführt werden. Tests sind das beste Werkzeug in unserem Werkzeugkasten.

Möglichkeiten 

Die Interaktion mittels Auge ist für viele Menschen, wenn nicht die natürlichste, so doch die erste Form der Interaktion. Das bietet eine einzigartige Gelegenheit, das Feld zu erforschen und herauszufinden, wie unsere Produkte vom Auge als Werkzeug für die Interaktion mit digitalen Produkten profitieren können. Ein einfaches Beispiel ist die Navigation auf einer Webseite über Blickerfassung. Scrollen ist ein großes UX-Problem, und bei herkömmlichen Navigationsmethoden benötigen Nutzer:innen entweder eine Maus, ein Trackpad oder ihre Finger, um zu scrollen. Den Blick nach unten zu richten und so die Seite zum Scrollen zu bringen, ist hingegen einfach und intuitiv.

Neben der Natürlichkeit ist ein weiterer Vorteil der blickgesteuerten Interaktion die Einbeziehung einer breiteren Benutzergruppe. Wir sollten immer auf die verschiedenen Ebenen der Zugänglichkeit achten und sicherstellen, dass die von uns entworfenen Produkte für Menschen mit unterschiedlichen oder eingeschränkten Fähigkeiten geeignet sind.

Innovation ist ein weiterer wichtiger Punkt, den Designer:innen nicht vergessen sollten. Wir konzentrieren uns immer darauf, nützliche und praktische Produkte zu entwerfen, und vergessen dabei oft, innovativ und kreativ zu sein. Dabei ist Innovation eine der stärksten Eigenschaften guter Designer:innen. Diese Art von Technologie ermöglicht mehr Innovation, da sie noch nicht weit verbreitet ist und ihren Platz im digitalen Spektrum erst noch finden muss.

Der Einsatz blickgesteuerter Interaktion eröffnet uns also mehr Möglichkeiten für innovativere Produkte, die benutzerfreundlicher und leistungsfähiger sind. Von dieser Interaktionsmethode profitieren nicht nur Menschen mit Behinderungen. Blickgesteuerte Interaktion kann auf unterschiedliche Weise in das Produktdesign integriert werden. Das bedeutet nicht, dass sie in jedes Produkt gehört, aber da es viele Menschen gibt, die von dieser Technologie in digitalen Produkten profitieren können, ist es sinnvoll darüber nachzudenken, wie man sie in den Designprozess einbeziehen kann.

Sie sehen also, wie wichtig es ist, bei der Entwicklung barrierefreier Produkte die Interaktion mit den Augen zu berücksichtigen. Augment IT hat mit dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum zusammengearbeitet, um ein Produkt zu entwickeln, das das Leben von Menschen mit Tetraplegie verbessert, insbesondere in den ersten Monaten im Krankenhaus.

Weitere Nachrichten und Informationen zur Augmented Reality-Technologie